Britta Hartmann (zusammen mit Christian Tedjasukmana und Jens Eder): “Bewegungs-Bilder 2.0 – Videoaktivismus zwischen Social Media und Social Movements”, VW-Stiftung
Das Projekt widmet sich dem neuen Gegenstand des Videoaktivismus 2.0 zwischen Online- und Offline-Öffentlichkeiten, Social Media und Social Movements. Es arbeitet das Formen- und Praxisspektrum aktivistischer Netzvideos systematisch auf und entwickelt eine Typologie des Videoaktivismus, seiner ästhetischen und rhetorischen Praktiken sowie seiner medialen und soziokulturellen Umgebungen.
Web-Dokumentationen wie Under the Dome über die Umweltverschmutzung in China, ‚Citizen Evidence‘-Videos wie jene über die Polizeigewalt in den USA, Kampagnenfilme wie Kony 2012 über einen zentralafrikanischen Kriegsverbrecher oder Whistleblower-Videos wie das 2010 von WikiLeaks veröffentlichte Collateral Murder, das die mörderischen Angriffe von US-Kampfhubschraubern aus Sicht der Bordkamera zeigt – dies sind nur die spektakulärsten Fälle eines neuen zivilgesellschaftlichen Video-Netz-Aktivismus, der sich seit der Entstehung des Web 2.0 weltweit formiert. Mussten bis vor zehn Jahren Videos in einem zeit- und kostenaufwändigen Prozess gedreht, geschnitten und vertrieben werden, ermöglichen neue Digitalkameras, Filmsoftware, Videoplattformen, Social Media wie Twitter und Live-Streaming-Apps wie Periscope eine einfache, rasche Verbreitung.
Doch nicht erst seit den Propagandavideos von Terrorgruppen und der Hetze mancher YouTuber mehren sich die Zweifel, ob die politische, epistemische und affektive Kraft der neuen Videos im Web 2.0 ausschließlich demokratisch-zivilisierender Art ist. In Kriegen und anderen politischen Konflikten entbrennt auch ein Kampf der Videobilder. Viele Videos werden für ihre dramatisierende und verfälschende Darstellung oder für kommerzielles Merchandising heftig kritisiert. Gefilmte Demonstranten und Informanten werden mit Verpixelungs-Software notdürftig vor Verfolgung geschützt. Mit Verifizierungsportalen und ethischen Richtlinien für Augenzeugenvideos reagieren Menschenrechtsorganisationen auf die Häufung gezielter Desinformationen.
Der neue Video-Netz-Aktivismus wirft damit eine Reihe gesellschaftlich bedeutsamer Fragen auf: Haben wir es mit einer neuen Partizipationsform für aufgeklärte ‚Netizens‘ zu tun, einem benutzerfreundlichen Update politischer Gegenöffentlichkeit? Oder verläuft sich der Videoaktivismus 2.0 in folgenlosem ‚Klicktivismus’? Bewegen wir uns in einer virtuellen Agora kommunikativen Bildhandelns oder in einer anonymen Arena gegenseitiger Zerfleischung?
Zwischen bürgerjournalistischer Vlogosphäre und YouTube-Kriegen stellt sich die Frage nach dem audiovisuellen Raum der neuen digitalen Öffentlichkeit. Der blinde Fleck bisheriger medien-, kommunikations- und politikwissenschaftlicher Forschung zum Gegenstand liegt dabei ausgerechnet im Bild selbst: Die politischen Videos, ihre Typen und Themen, ihre Genres und Ästhetiken, ihre rhetorischen Strategien und affektiven Wirkungspotenziale, ihre transmedialen und intertextuellen Bezüge, ihre historischen Vorläufer und Vorbilder kamen bislang nicht in den Blick. Systematische Analysen ihres Formenspektrums fehlen ebenso wie eine Reflexion ihrer Produktionskontexte. Das Projekt erschließt dieses Forschungsfeld, indem es folgenden Fragen nachgeht:
Wie verändern sich im neuen Videoaktivismus politische und dokumentarische Praktiken? Welche neuartigen Ästhetiken, narrativen Modi und affektiven Rhetoriken bringt er hervor? Wie werden die spezifischen Möglichkeiten des Audiovisuellen hinsichtlich der Erzeugung von Evidenz, Erkenntnis und Emotionen genutzt? Welche Normen und Konventionen der Darstellung und Argumentation bilden sich heraus? Führen Tendenzen der Personalisierung und Emotionalisierung zu einem konsumierbaren Konformismus des Politischen? Andererseits: Laufen eingängige Formen automatisch auf Manipulation hinaus? Befördert oder hindert die ‚Macht der Bilder‘ die Aufklärung komplexer Sachverhalte? Wie wird Verifikation ermöglicht oder Authentizität vorgetäuscht? In welchen Medienumgebungen werden die Videos eingebettet, und wie sind sie verlinkt?
Diesen Fragenkomplex wird das Projekt unter genauer Beobachtung aktueller Entwicklungen und im Austausch mit VideoaktivistInnen untersuchen, um erstmals eine Übersicht über das Feld der Bewegungs-Bilder im Web 2.0 zur Verfügung zu stellen.
Link zum Projekt: http://videoactivism.net/de/